Wer sind die Steuermänner?

Tomasz Konicz Wer "steuert" diese monströse Maschinerie? Ist es einfach die herrschende Klasse, oder sehen sie hier eine systemische Eigendynamik walten?

Fabian Scheidler: Die Megamaschine ist aus Kräften entstanden, die nach neuen Methoden gesucht haben, um ihren Reichtum und ihre Macht zu erhalten und auszubauen. Das ist ihnen auf spektakuläre Weise gelungen, auf Kosten der Mehrheit der Weltbevölkerung. Dafür gab es aber keinen Masterplan.

Das moderne Weltsystem ist nicht aus einer Verschwörung hervorgegangen, sondern aus einem jahrhundertelangen Ringen verschiedener Kräfte miteinander und teilweise gegeneinander: Kaufleute, Bankiers, Landesherren, Fabrikanten, Grundbesitzer, Kirchen, Warlords. Es hat von Anfang an auch massiven Widerstand gegen die kapitalistische Produktionsweise gegeben, gegen Vertreibungen, Einhegungen, Lohnsklaverei, und dieser Kampf hat das System geprägt und immer wieder tiefgreifend verändert, von den Bauernkriegen über die Französische Revolution, die Arbeiter- und Frauenbewegungen, die antikolonialen Befreiungsbewegungen bis 1968. Was dabei herauskam, ist so komplex und auch in sich widersprüchlich, dass es sich einer planbaren, vorhersagbaren Steuerung entzieht, auch wenn natürlich Eliten ständig versuchen, es zu steuern.

Herrschaft in diesem System bedeutet daher nicht, dass man seine Dynamik wirklich kontrollieren kann, sondern dass man - zumindest vorübergehend - eine gewisse Hegemonie hat, und zwar in drei zentralen Bereichen: der physischen Macht des Staates, der strukturellen Gewalt der Ökonomie - also Eigentum, Geld, Schulden - und der ideologischen Macht, wie sie etwa durch das Bildungssystem, die Medien, politische Parteien und so weiter ausgeübt wird.

Aber auch Leute, die all diese Machtfaktoren hinter sich haben, sind oft selbst Getriebene des Systems und beherrschen es nicht. Der CEO einer großen Aktiengesellschaft zum Beispiel ist Teil eines großen Räderwerks, und wenn er die Renditeziele verfehlt, spuckt die Company ihn einfach aus. Er ist letztlich auch nur ein austauschbares Zahnrad, wenn auch ein gut bezahltes. Die Eigenlogik der Institutionen ist mächtiger als ihre vermeintlichen Steuermänner. Deswegen hilft es auch nicht weiter, über die Gier einzelner Banker zu klagen. Wir müssen die institutionellen Logiken ändern, den genetischen Code des Systems.

Tomasz Konicz Die kapitalistische Verwertungsmaschine, diese Megamaschine, stößt immer stärker an ihre Entwicklungsgrenzen. Sie sprechen von ökologischen und sozialen, inneren Schranken. Können Sie das erläutern?

Fabian Scheidler: Die systemimmanenten Schranken sind ökonomischer, sozialer und politischer Art. Nach dem Nachkriegsboom ist die Weltwirtschaft Mitte der 70er Jahre in eine tiefe Krise gerutscht, die Akkumulationsmaschine stotterte, die Renditen brachen ein. Die Antwort darauf war das, was wir heute als "Neoliberalismus" kennen: Löhne drücken, Gewerkschaften kaputt machen, Privatisierungen, Flucht in Billiglohnländer und Steueroasen, Finanzspekulationen usw.

Das hat die Profite der großen Unternehmen und die Klassenmacht des oberen ein Prozent wiederhergestellt; aber es hat dazu geführt, dass die Leute tendenziell nicht mehr das Geld haben, die ganzen Waren und Dienstleistungen zu kaufen, zumindest nicht zu profitablen Preisen. Um das System in Gang zu halten, mussten daher überall Schulden angehäuft werden: Konsumenten mussten sich verschulden, um trotz geringerer Löhne weiter zu konsumieren; Staaten mussten sich verschulden, um fehlende Steuereinnahmen auszugleichen; Banken haben riesige Schulden-Dominosysteme kreiert. Solche Schuldenblasen platzen natürlich irgendwann, etwa in der Finanzkrise 2007-2009, und es sind dann in der Regel die Staaten, die diese Schulden übernehmen und auf die Bevölkerung abwälzen.

Die Finanzkrisen werden zu Staatskrisen und zu politischen Krisen, etwa in der Eurokrise. Der Clou dabei ist: Je mehr die Kapitalbesitzer ihre kurzfristigen Interessen durchsetzen können, desto mehr destabilisieren sie das System, von dem sie sich langfristig ernähren. Hinzu kommt ein anderer Prozess: Menschliche Arbeit wird zunehmend durch Technik ersetzt, und durch die Computerisierung betrifft das nicht nur die Landwirtschaft und Industrie, sondern auch die Dienstleistungsberufe der Mittelschicht. Die Folge von beiden Prozessen ist eine strukturelle globale Massenarbeitslosigkeit, die sich immer weiter ausbreitet. In Südeuropa etwa liegt die Jugendarbeitslosigkeit inzwischen bei über 50 Prozent. Das System ist nicht mehr in der Lage, den Menschen eine Perspektive zu geben, und sei es nur die, sich ausbeuten zu lassen. Das führt natürlich zu sozialem Aufruhr, politischen Krisen, Umstürzen, Chaos.

Die äußere Schranke des Systems ist ökologischer Art. Die kapitalistische Weltwirtschaft ist, wie jedes andere soziale System, ein Subsystem der Biosphäre. Alles, was wir tun, hängt in jedem Moment davon ab, dass die lebenserhaltenden Systeme der Erde funktionieren: Wasser, Atemluft, ein erträgliches Klima, Nahrungsmittelzufuhr, Energie etc.

Nun zwingt die Logik der endlosen Akkumulation zu einer ständigen Wirtschaftsexpansion, und diese Expansion zerstört die lebenserhaltenden Systeme inzwischen global in atemberaubendem Tempo. Das betrifft nicht nur das Klima, sondern auch die Süßwasserversorgung, die Böden, Wälder, Ozeane und die Artenvielfalt. Neuste Studien zeigen, dass wir bereits das schnellste Artensterben in der Geschichte des Lebens auf der Erde in Gang gesetzt haben. Wir verlieren jedes Jahr ein Prozent unserer fruchtbaren Böden durch die industrielle Landwirtschaft. Der Westen der USA und Nordchina bewegen sich in eine gigantische Süßwasserkrise hinein - und das sind nur einige wenige Beispiele. Der Klimawandel macht all das noch viel schlimmer.

Diese ökologischen Krisen wiederum treten mit den ökonomischen, politischen, sozialen Krisen in Wechselwirkung. Der Bürgerkrieg in Syrien zum Beispiel wurde nicht zuletzt durch eine klimabedingte Dürre entfacht, die alles bisher Dagewesene in den Schatten stellte. Das Ergebnis ist noch mehr Chaos, und dieses Chaos untergräbt das weltumspannende, extrem komplexe, verwundbare System, das von einer ununterbrochenen Versorgung mit Energie, Material und Geld abhängig ist und auch ein Minimum an politischer Stabilität braucht. Wenn diese Zuflüsse unterbrochen werden, etwa durch Finanzkrisen, Energiekrisen, Revolten, entstehen Systemausfälle, die wiederum unbeherrschbare Kettenreaktionen auslösen können - und davon werden wir zweifellos immer mehr erleben in den kommenden Jahrzehnten.
Das Verrückte ist, dass man diese Maschinerie nicht stoppen oder drosseln kann

Tomasz Konicz Sehen Sie auch eine Wechselwirkung zwischen diesen inneren und äußeren Schranken des Kapitals? Verhält es sich nicht gerade so, dass die steigende Produktivität der "Megamaschine" die Ressourcenverschwendung befeuert, da ja die Verwertung des Werts den irrationalen Selbstzweck dieser amoklaufenden Monstermaschine bildet?

Fabian Scheidler: Ja, die endlose Produktivitätssteigerung als Selbstzweck, um aus Geld mehr Geld zu machen, treibt uns an die ökologischen und stofflichen Grenzen und untergräbt zugleich die ökonomische Basis, weil sie Menschen überflüssig macht. Das Verrückte ist ja, dass man diese Maschinerie nicht stoppen oder drosseln kann. Wer die Produktivität drosselt, der wird von den Märkten bestraft und fällt zurück. In diesem Hamsterrad sind alle gefangen, und deswegen treiben alle das Rad weiter an, obwohl es uns gegen die Wand fährt.

Tomasz Konicz Sie haben den Ausstieg aus der Megamaschine ein ganzes Kapitel ihres Buches gewidmet. Wie könnte so ein transformatorischer Prozess sich abspielen?

Fabian Scheidler: Die Transformation wird auf jeden Fall geschehen, ob wir wollen oder nicht. Die Frage ist nur, wie sie aussieht und wohin sie führt. Es ist durchaus möglich, dass das, was kommt, noch schlimmer ist, als das, was wir jetzt haben.

In der EU zeichnet sich etwa eine neue Form von autoritärem Regime ab, eine Diktatur der Gläubiger in Verbindung mit einer Plünderungsökonomie. Zugleich sehen wir von Zentralafrika bis zum Mittleren Osten einen Korridor von gescheiterten Staaten: vom Kongo über Somalia, Libyen, Syrien und den Irak bis nach Afghanistan. Dort regieren die Warlords und Mafias. Das gilt auch für die Ukraine. Oder für Mexiko, das nach den neoliberalen Rosskuren längst Beute rivalisierender Gangsterbanden ist.

Wohin die Reise geht, hängt ganz wesentlich von uns allen ab, davon, ob wir in der Lage sind, neue Formen des Wirtschaftens und des Zusammenlebens aufzubauen und zugleich erfolgreich Widerstand gegen Repression, Enteignung und Ausbeutung zu leisten. In meinem Buch zeige ich eine Reihe von vielversprechende Ansätzen, kleinen wie großen, zum Beispiel den Aufbau von großen Netzwerken solidarischer Ökonomie, wie man sie etwa in Brasilien sehen kann; oder die bemerkenswerte Welle von Genossenschaftsgründungen im Energiesektor. Entscheidend ist es dabei, die Versorgung mit den lebensnotwendigen Gütern wie Wohnen, Essen, Gesundheit, Wasser, Bildung, Energie, Kommunikation, Kultur langfristig aus der Profitlogik und dem Markt herauszulösen und neu zu organisieren.

Damit solche Formen der Selbstorganisation tatsächlich in der Breite Fuß fassen können und nicht vom Strudel der Krisenereignisse weggespült werden, braucht es auch neue Formen der politischen Organisation, um dort, wo Risse im System auftauchen, politische Räume besetzen zu können und Rahmenbedingungen für eine andere Wirtschaft zu schaffen. Davon sind wir aber noch ziemlich weit entfernt. Das Weltsozialforum etwa ist so ein Versuch, aber es hat in den letzten Jahren etwas an Dynamik verloren.

Ich denke aber, dass es neue Versuche geben wird, die verschiedenen Bewegungen für einen Ausstieg aus der Megamaschine enger miteinander zu verknüpfen. Die große Transformation hat ja gerade erst angefangen, und zu ihren Eigenheiten gehört es, dass man nichts vorhersagen kann.

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